K 2022 (19.-26. Oktober): die europäische Kunststoffindustrie
Die europäische Kunststoffindustrie steht an etlichen Fronten vor Herausforderungen. In der Verpackungsbranche, ihrem bei weitem größten Markt, ist sie als Lieferant des idealen Materials für Einweganwendungen zum Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden. Seit Anfang 2019 hat sich COVID-19 stark auf die Produktion ausgewirkt, gelegentlich positiv, meist aber negativ. Und jetzt, wo Europa und der Rest der Welt dabei sind, sich von den verheerenden zwei Jahren der Pandemie zu erholen, kommt die Tragödie des Ukraine-Konflikts hinzu.
Martin Wiesweg, Executive Director Polymers EMEA beim Beratungsunternehmen IHS Markit, sagte zur Lage Ende März, dass die Krise nicht nur eine humanitäre Katastrophe verursache, sondern auch die Kunststoffbranche schwer belaste, da sie die Kosten in die Höhe treibe, Engpässe in der Versorgungskette, einschließlich der Energieversorgung, verschärfe und das Gespenst eines Nachfrageschocks aufkommen lasse, da eine weltweite Stagflation befürchtet wird.
In der EU hat die Inflation im März mit 7,5 % ein Allzeithoch erreicht. Laut Aussage von S&P Global Economics am 30. März wird das Wachstum in der Eurozone in diesem Jahr voraussichtlich 3,3 % betragen, gegenüber 4,4 % laut einer früheren Prognose, und die Inflation in diesem Jahr 5% erreichen und auch 2023 über 2% bleiben.
Kunststoffverarbeitung auf Kurs zur Kreislaufwirtschaft
Deutschland ist nach wie vor die „Kraftzentrale“ der europäischen Kunststoffindustrie mit seinen vielfältigen Stärken bei Werkstoffen, Ausrüstung und Verarbeitungsmöglichkeiten. Aber einige Sektoren sind dennoch angeschlagen. Nach Angaben des GKV (Gesamtverband Kunststoffverarbeitende Industrie) stieg der Umsatz der Branche im Jahr 2021 um 12,6 % auf 69,4 Mrd. Euro, aber die Mitgliedsunternehmen stehen weiterhin unter starkem Ergebnisdruck. Der Verband verweist dazu auf eine „exorbitante Kostenexplosion“ bei Rohstoffen und Energie sowie auf die vielen Lieferverzögerungen und daraus resultierenden Auftragsstopps, vor allem in der Automobilzulieferung.
Die gesamtwirtschaftlichen Aussichten bleiben für das Jahr 2022 sehr heterogen, sagte GKV-Präsident Roland Roth auf der jährlichen Bilanzkonferenz des Verbandes Anfang März. Rund die Hälfte der im Vorfeld der Konferenz befragten Verbandsmitglieder rechnete mit einem Umsatzwachstum, ein gutes Viertel erwartete jedoch weitere Rückgänge. Mehrere dächten über Produktionsverlagerungen oder -stilllegungen nach.
Roth forderte eine Senkung der staatlichen Zuschläge auf die Energiepreise. In Bezug auf die Werkstoffpreise sagte er, dass die jüngsten Erhöhungen „fast irrsinnig“ seien. Im Durchschnitt stiegen die Preise für Kunststoffe in Europa in der ersten Jahreshälfte 2021 um mehr als 50% im Vergleich zum Vorjahr und sind so hoch geblieben. Im Februar 2021 wurde beispielsweise PET-Primärrohstoff für rund 1 €/kg verkauft. Im März dieses Jahres lag der Preis bei etwa 1,7 Euro/k. Die Preise für lineares PE niedriger Dichte stiegen im selben Zeitraum von etwa 1,2 Euro/kg auf etwa 1,9 Euro.
Herausforderungen bei der Verpackung
Die weltweit hohen und steigenden Preise für Kunststoffe bedeuten, dass der Verpackungsmarkt weiterhin unter Druck steht. Der Übergang zu fest verbundenen Verschlüssen (verpflichtend ab 2024 im Rahmen der Einweg-Plastik-Richtlinie, SUPD = Single-Use Plastics Directive) und die Ausweitung der erweiterten Herstellerverantwortung (ab 2023) werden unweigerlich einen starken Einfluss haben, ebenso wie die neue EU-Verpackungsabgabe auf nicht recycelte Verpackungsabfälle, so Liebig. (Seit dem 1. Januar 2021 erhebt die EU von den Mitgliedstaaten eine Abgabe von 0,80 Euro/kg Kunststoffverpackungsabfall, der nicht recycelt wird. Die Staaten können frei entscheiden, wie sie die Abgabe finanzieren wollen.)
Die europäische Kunststoffindustrie muss sich tatsächlich mit verschiedenen Rechtsvorschriften zum Thema Kunststoffabfälle auseinandersetzen. So gibt es beispielsweise die Vorgabe, dass bis 2030 insgesamt 55% aller Kunststoffverpackungen in der EU wiederverwertbar sein müssen, sowie die Abgabe auf nicht recycelte Kunststoffverpackungsabfälle. Einige Länder führen auch lokale Rechtsvorschriften ein (z. B. Spanien und Frankreich), so dass die Wettbewerbsbedingungen nicht so einheitlich sind, wie sie sein sollten.
Die Industrie muss bereits heute mit den Folgen der SUP-Richtlinie leben, von der einige Elemente am 3. Juli 2021 in den meisten EU-Ländern in Kraft getreten sind – obwohl die Einführung der Rechtsvorschriften nicht ganz reibungslos verlaufen ist. In Italien beispielsweise trat sie erst im Januar in Kraft, so dass sich die endgültige Umsetzung verzögerte. Außerdem sind die Definitionen von Kunststoffprodukten flexibler als ursprünglich von Brüssel beabsichtigt, denn während die SUP-Richtlinie bestimmte biologisch abbaubare Kunststoffe nicht ausnimmt, ist dies in den italienischen Rechtsvorschriften der Fall.
Zum Thema Biokunststoffe sagt der Fachverband European Bioplastics: „Leider erhalten Biokunststoffe in Europa immer noch nicht so viel Unterstützung, wie andere innovative Industrien von den politischen Entscheidungsträgern der EU erhalten. Die EU-Kommission hat teilweise widersprüchliche Positionen zu Biokunststoffen. Auch die Positionen der Mitgliedstaaten zu Biokunststoffen sind sehr unterschiedlich, das regulatorische Umfeld ist alles andere als harmonisiert. Dies schreckt von Investitionen in Forschung und Entwicklung sowie in Produktionskapazitäten ab“, heißt es.
Trotz dieser Herausforderungen ist die Entwicklung der europäischen Biokunststoffe „sehr positiv. Die weltweiten Produktionskapazitäten machen noch immer weniger als 1% der mehr als 367 Millionen Tonnen aller Kunststoffe aus, aber bis 2026 wird die Produktion von Biokunststoffen erstmals die 2 %-Marke überschreiten.“ Die Produktionskapazitäten für Biokunststoffe in Europa lagen im Jahr 2021 bei knapp 600.000 Tonnen und werden in den nächsten fünf Jahren voraussichtlich auf rund 1.000.000 Tonnen ansteigen.
Recycling auf dem Vormarsch
2021 belief sich die Produktion von Kunststoff-Recyclaten in Europa auf 8,2 Millionen Tonnen und wird den Prognosen zufolge bis 2030 um 5,6 % pro Jahr zunehmen. Dem stehen 35,6 Millionen Tonnen Standardkunststoffe gegenüber, die im Jahr 2021 in den Abfallstrom gelangten. Dies bedeutet, dass Europa insgesamt eine Kunststoffrecyclingrate von 23,1% erreicht hat. Diese Zahl wird höchstwahrscheinlich noch steigen, da die Kunststoffindustrie umfangreiche Investitionen in verschiedene Recyclingtechnologien tätigt.
Glücklicherweise macht die Recyclingtechnologie in Europa große Fortschritte. Österreichische Unternehmen wie Erema und Starlinger gehören beispielsweise zu den führenden Unternehmen in diesem Bereich, während Amut und Bandera zu den italienischen Extrusionsspezialisten gehören, die Systeme für die Behandlung von Folienabfällen entwickeln. Die Spezialisten für PET-Flaschentechnologien Sipa haben in Zusammenarbeit mit Erema das erste vollständig integrierte System für die Rückführung von Post-Consumer-Flakes zu Flaschen für Anwendungen mit Lebensmittelkontakt entwickelt. Automatische Sortiertechnologien für gemischte PCR machen ebenfalls große Fortschritte, wobei das norwegische Unternehmen Tomra eine wichtige Rolle spielt.
Polymeranbieter werden grün
Die europäischen Polymerhersteller unternehmen große Anstrengungen, um die Nachhaltigkeit ihrer Produkte zu verbessern. So hat sich beispielsweise LyondellBasell, eines der weltweit größten Unternehmen in der Kunststoffherstellung und führend in der Produktion von Polymeren, Chemikalien, Kraftstoffen, Katalysatoren und den entsprechenden Technologien, zum Ziel gesetzt, bis 2030 jährlich zwei Millionen Tonnen recycelte und erneuerbare Polymere zu produzieren und zu vermarkten. Das Unternehmen hat bereits Kunststoffe auf den Markt gebracht, die aus mechanisch und chemisch recycelten Kunststoffabfällen sowie aus biobasierten Rohstoffen hergestellt werden.
Ähnlich äußerte sich auch SABIC. Das Unternehmen brachte 2019 zertifizierte Kreislauf-Polymere auf den Markt, die durch Upcycling von Altkunststoffen hergestellt werden.
Laut SABIC ist eine stärkere regulatorische Unterstützung durch die Regierungen erforderlich, um den Akteuren der Branche bei der Skalierung neuer Techniken wie dem chemischen Recycling zu helfen. Hierfür ist es jedoch wichtig, dass beispielsweise der europäische Rechtsrahmen chemisch recyceltes Harz als gleichwertig mit neuem, aus fossilen Rohstoffen hergestelltem Harz anerkennt, um die Verfügbarkeit zu erhöhen und die Skalierbarkeit zu fördern.
Die Geschäftsführerin von Plastics Europe, Virginia Janssens, erklärt, dass die Mitglieder von Plastics Europe das verbindliche EU-Ziel von 30 % Recyclinganteil in Kunststoffverpackungen bis 2030 unterstützen und kürzlich Investitionen in Höhe von 7,2 Milliarden Euro in das chemische Recycling bis 2030 in Europa angekündigt haben.